Die Neugierige : Datum:

Die Lausitz braucht neue Arbeit. Die Region zwischen Cottbusser Ostsee und Zittauer Gebirge sucht nicht Parolen, sondern Perspektiven. Universitätsprofessorin Christiane Hipp managt ein Innovationsbündnis, das aus Plänen Taten machen soll.

Ständig unterwegs, dauernd im Gespräch: ein Tag im Leben der Christiane Hipp.
Ständig unterwegs, dauernd im Gespräch: ein Tag im Leben der Christiane Hipp. © BMBF/Innovation & Strukturwandel/Thilo Schoch
Im Technologiepark Berlin-Adlershof ist Christiane Hipp unterwegs zu einem Partnerunternehmen des WIR!-Bündnisses.
Im Technologiepark Berlin-Adlershof ist Christiane Hipp unterwegs zu einem Partnerunternehmen des WIR!-Bündnisses. © BMBF/Innovation & Strukturwandel/Thilo Schoch

Die Neugier hat keine Zeit zu verlieren. Um ihr schon am frühen Morgen den gebührenden Platz einzuräumen, sitzt Christiane Hipp in den Räumen der Berliner Nanotest und Design GmbH, gespannt auf neue Forschungsergebnisse. Hier im Technologiepark Berlin-Adlershof, wo in der DDR eine seltsame Mischung aus Akademie der Wissenschaften, DDR-Fernsehen und Wachregiment der Stasi stationiert war, ist von der Lausitz keine Spur. Fast zwei Autostunden entfernt ist das Rasseln der Schaufelräder, die Braunkohle schürfen. Von hier aus gibt es keine Sicht auf die Wasserdampfwolken der Kraftwerke, in denen schon bald alle Lichter ausgehen. Und scheinbar weit weg ist man von den Fragen nach der Zukunft der Menschen und Maschinen, auf die die Wirtschaftsingenieurin ihre Antworten finden soll. Darum ist sie hier.

Mohamad Abo Ras ist CEO der Berliner Nanotest und Design GmbH – einem Unternehmen, dem im WIR!-Bündnis „Digitale Reparaturfabrik – Wartung.Instandhaltung.Reparatur“ eine wichtige Rolle zugedacht ist. Nicht nur, weil er mit dem Gedanken spielt, in Zukunft vielleicht in Cottbus eine Firma zu gründen, die genau das produziert, woran heute noch geforscht wird. Sondern vor allem deshalb, weil es ihn ungemein inspiriert, wie sich die alte Energieregion Lausitz gerade neu erfindet. Seine Erläuterungen in den firmeneigenen Adlershofer Labor- und Werkstatträumen spiegeln die Grundidee der „Digitalen Reparaturfabrik“ markant wider: die in der Lausitz über Jahrzehnte gewachsene Kompetenz in der Erzeugung von Strom und Wärme für die neuen Ressourcen aus Wind und Sonne und deren Maschinenpark neu zu denken und nutzbar zu machen.

Christiane Hipp, die nicht nur dieses Bündnis managt, sondern außerdem als Professorin an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg BTU tätig ist, folgt den Worten von Abo Ras mit größter Aufmerksamkeit. Seine Vision von innovativer Technik für die neuen „Lausitz-Kraftwerke“ hat Potenzial. Schon heute prägen Windkraftwerke das Gesicht der Landschaft, in der die Ortsschilder auf Deutsch und Sorbisch geschrieben sind. Brandenburg ist bereits jetzt das drittstärkste „Windland“ in der Bundesrepublik, gemessen an der realisierbaren Stromerzeugung: Rund 3.900 Windräder mit einer Leistung von über 7.300 Megawatt sind installiert. Allein Berlin verbraucht bis zu 2.200 Megawatt Leistung des in Brandenburg erzeugten Stroms – heute noch als Strommischung aus Braunkohle und Wind.

Reparaturen in Echtzeit

Christiane Hipp will es genau wissen. Schlagworte kennt sie schon zu viele, Phrasen hört sie täglich, darum will sie an die Wurzel eines Gedankens, einer Idee. Deshalb fragt sie Mohamad Abo Ras: „Wie genau soll die favorisierte Thermografie zur Instandhaltung von Windkraftanlagen eingesetzt werden?“ Natürlich weiß sie, dass man mit dieser Technik die Temperatur von Oberflächen messen und als farbiges Bild zeigen kann: rot – heiß, blau – kalt. Christiane Hipp und das Team der Nanotest und Design GmbH aus Berlin suchen in einem herausragenden Teilprojekt des WIR!-Bündnisses ein Verfahren, das die technische Untersuchung riesiger Windrad-Flügel revolutioniert. Daran forschen zwar viele in Deutschland und Europa, aber sie wäre gern diejenige, die mit dem Erfindungsreichtum aus der Region Neues in der Lausitz möglich macht. Geklärt werden muss zum Beispiel Hipps Frage, wie der zurzeit etwa zwei Kubikmeter große und 25 Kilogramm schwere Kasten samt Wärmebildkamera hinauf zu den Flügeln transportiert werden soll. In bis zu 100 Meter Höhe!

Denn das ist die Idee von CEO Abo Ras: In Zukunft werden Industriekletterer, die bis heute nur mit Augenschein und ihrem Wissen Flügel für Flügel bei Inspektionen untersuchen, mit einer mobilen Wärmebildkamera ausgestattet, mit der sie die Flügel in luftiger Höhe fotografieren. Die dabei entdeckten Schadensfälle werden mit den Fotos als häufig auftretende Schadensbilder in einer Datenbank dokumentiert, um in Echtzeit Reparaturen auch vor Ort festzulegen. So wäre eine erste digitale Revolution für die Branche und in der Lausitz geglückt. Bis dahin wartet noch reichlich Arbeit auf die Forschenden und Entwickelnden. Aber Christiane Hipp verlässt mit einem guten Gefühl für diesen Weg das schlichte Gebäude am Wissenschaftsstandort Berlin-Adlershof.

Digital in Lübbenau

Eine Stunde Autofahrt zum nächsten Arbeitstreffen an diesem Tag – Zeit für einen Blick zurück. Habilitiert hat Christiane Hipp am Hamburger Institut für Technologie- und Innovationsmanagement. „Direkt danach bin ich in Projekte gegangen, in denen ich das schwierig-schöne Realisieren von Innovationsideen hautnah erlebt habe. Nach meinem Studium in Karlsruhe sowie Aufenthalten in Manchester, München und Hamburg sowie meiner Arbeit als Vizepräsidentin für Forschung der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg habe ich jetzt mit dem WIR!-Bündnis ‚Digitale Reparaturfabrik‘ ein Projekt gefunden, das meine Managementkompetenz herausfordert.“ Mit sieben Teilprojekten und bisher 40 Partnerunternehmen sowie wissenschaftlichen Einrichtungen möchte Christiane Hipp beweisen, dass die in Jahrzehnten aufgebaute Kompetenz in Bau, Wartung und Instandsetzung von Maschinen und Anlagen in Bergbau und Kraftwerken der Lausitz eine Zukunft hat: „Weil die kommenden Jahre unsere Forschung, Ausbildung und Produktion digitalisieren werden, müssen wir heute Köpfe und Kompetenzen auf diese Revolution vorbereiten. Bei diesem Wandel will ich aktiv dabei sein.“

Sie will es genau wissen: Christiane Hipp im Gespräch mit Elvira Schneider im AWO-Bildungszentrum.
Sie will es genau wissen: Christiane Hipp im Gespräch mit Elvira Schneider im AWO-Bildungszentrum. © BMBF/Innovation & Strukturwandel/Thilo Schoch

Ankunft in Lübbenau: Spreewald – das „Saure-Gurken-Land“. Der Zauber der Kähne und Kanäle, der Geister und Geschichten. Für Christiane Hipp, die seit 2005 an der Brandenburgischen Technischen Universität lehrt und forscht, ist das ein Kontrastprogramm. Nach Hightech in der Hauptstadt jetzt Arbeitsalltag in Lübbenau. Am Eingang des AWO-Bildungszentrums warten schon Ulrich Thorhauer und Elvira Schneider auf die Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre aus Cottbus. Hier werden junge Frauen und einige Männer in der Pflegeschule für Sozialwesen aus- und weitergebildet. Die Menschen also, die zu Pandemiezeiten dringender gesucht werden denn je.

„Volle Kanne Phantasie!“, dachte man sich bei der AWO in Lübbenau, nachdem Christiane Hipp dort angefragt hatte: „Wie können wir der Bürgerschaft Digitalisierung zeigen und Lust darauf machen? Bei Ihnen gehen doch junge Leute mit frischen Ideen ein und aus!“ Zuvor hatte sie vom mobilen FabLab der AWO gehört – einem gebrauchten Blutspendewagen, einem Probierlabor für alle. Mit 3D-Drucker und Lasercutter, Games und Grafikprogrammen ist alles an Bord, womit Frauen und Männer, Alt und Jung, die Digitalisierung unter Anleitung probieren und begreifen können. Vielleicht schlummert hier ein Ideenschatz, der hilft, Digitalisierung vom Schlagwort zum Allgemeinwissen zu bekommen. Christiane Hipp ist echt überrascht vom AWO-Team: „Hier bekommen digitale Angebote festen Boden unter die Füße. Digitalisierung wird mit Mehrwert nutzbar.“ Gedanklich plant sie schon den nächsten Termin für die Werkstatt Lausitz mit dem AWO-Team und der Universität Potsdam.

Mobile Reparaturfabrik

Während Christiane Hipp noch über das Treffen in Lübbenau nachdenkt, schimmert durch die Lärmschutzwand der Autobahn die Silhouette von Dresden. Doch Hochkultur muss heute warten, Industriekultur auf keinen Fall. Darum freut sich Christiane Hipp auf Michael Schnick, Geschäftsführer der Oscar PLT GmbH. In einem unscheinbaren Gewerbegebiet am Dresdner Stadtrand entwickelt sich das Unternehmen zum richtungsweisenden Partner für das Bündnis. Als Forschungszentrum und Tochter der renommierten Kjellberg Finsterwalde GmbH für Plasma Laser-Technologien ist die Oscar PLT GmbH eng in das Teilprojekt einer Mobilen Reparaturfabrik für das WIR!-Bündnis eingebunden. Damit soll die Werkstatt zur defekten Maschine kommen und nicht umgekehrt wie bisher. Dieses Vorhaben könnte ein Coup für Christiane Hipp werden, wenn eine Pilotanlage am Ende der Entwicklungsarbeit steht.

Während Michael Schnick ihr den beeindruckenden Oscar-Gerätepark zeigt, erkundigt sie sich: „Es wäre doch grandios, wenn ein originalgetreues Ersatzteil für eine Maschine im Bergbau oder Kraftwerk in der mobilen Werkstatt produziert werden könnte. Wird das möglich sein?“ Mit der mobilen Technik und einem digital angebundenen Herstellungsraum mit schwenkbarem Laserkopf scheint es realistisch. Liegt ein digitaler Scan des benötigten Teiles vor, wird das Material aus Metall oder Kunststoff Schicht für Schicht vom Laser aufgetragen, bis ein sofort einsetzbares, passgenaues Ersatzteil entstanden ist. Diesen Plan verfolgen Michael Schnick und seine Dresdner Mannschaft.

Nächste Station für Christiane Hipp ist Cottbus. Nach zehn Stunden Reise wird sie dort von ihrem Projektteam im PantaRhei-Leichtbauzentrum begrüßt – mit guten Nachrichten. Die Planung für die Mobile Reparaturfabrik steht. In zwei Container passt alles, was das Technikherz der Oscar PLT begehrt, um zu schweißen, zu fräsen, zu lasern und Ersatzteile zu drucken. „Können wir das bis zum nächsten Sommer schaffen?“, fragt sie nochmal nach. Ja, lautet die Antwort. Dann könnte die Pilotanlage stehen. Christiane Hipps Augen leuchten.

Lieblingsplatz am Ende des Tages. Unten im Dunkel entsteht der Cottbuser Ostsee, im Hintergrund leuchten die Lichter des alten Kraftwerks.
Lieblingsplatz am Ende des Tages. Unten im Dunkel entsteht der Cottbuser Ostsee, im Hintergrund leuchten die Lichter des alten Kraftwerks. © BMBF/Innovation & Strukturwandel/Thilo Schoch

Zum Abschluss zeigt sie uns noch ihren Lieblingsplatz auf einem Turm. In der Dunkelheit steigt sie hinauf. Unten der entstehende Cottbusser Ostsee in einem ausgebaggerten Tagebau, am Horizont weiße Lichter. 2030 sind sie aus, weil das Kraftwerk Jänschwalde dann Geschichte ist. Was denkt sie? Ob es der Lausitz dann besser geht? „Wenn wir das Wissen und seine Kraft in der Region pflegend bewahren und dem Unbekannten mit Neugier aktiv begegnen, dann kann Zukunft entstehen, die Arbeit macht und Heimat bleibt.“

Christiane Hipp will ein Teil davon sein. Und vielleicht eine neue Heimat finden.