Gründlicher als das menschliche Auge : Datum:

Was hat virtuelle Realität mit schützenswerten Kulturdenkmälern zu tun? Digitale Technologien können dabei helfen, den Zustand alter Gemäuer besser einzuschätzen und so den Erhalt der Gebäude zu sichern. Ein Projektteam des WIR!-Bündnisses „Vogtlandpioniere“ hat dafür den Weg geebnet.

Andreas Kulik (links) und Norman Hallermann demonstrieren, wie sie mit dem interaktiven 3D-Programm gemeinsam die Wehrkirche in Döblitz erkunden, obwohl sie gerade auf der Messe „Denkmal“ in Leipzig stehen.
Andreas Kulik (links) und Norman Hallermann demonstrieren, wie sie mit dem interaktiven 3D-Programm gemeinsam die Wehrkirche in Döblitz erkunden, obwohl sie gerade auf der Messe „Denkmal“ in Leipzig stehen. © PRpetuum GmbH, Petra Dahl

Eigentlich würden sie jetzt in den kühlen Räumen der Wehrkirche im vogtländischen Döblitz stehen. Stattdessen sitzen die Restauratorinnen und Restauratoren, Ingenieurinnen und Ingenieure mit futuristischen Brillen in warmen Büros an verschiedenen Orten vor ihren Bildschirmen. Die Brillen versetzen sie in eine virtuelle Welt, mitten in das 3D-Modell des über 800 Jahre alten Kulturdenkmals. Live und in Echtzeit durchwandern sie gemeinsam die Kirche, schätzen deren Zustand ein und diskutieren die notwendigen Sanierungsmaßnahmen. Aus über 7.200 Fotos und 52 dreidimensionalen Laserscans hat das Team von „DenkmalDigital“ das virtuelle Modell der Wehrkirche erstellt. Jeder noch so kleine Schaden im Gemäuer, in der hölzernen Decke oder im Dach ist bis ins Detail zu sehen. Die Gutachterinnen und Gutachter können Einzelheiten stark vergrößern und so viel mehr erkennen, als es mit dem bloßen Auge möglich ist. „Manuelle Rekonstruktionen sind nie so authentisch und so nah dran“, sagt der Informatiker Alexander Kulik von der Bauhaus-Universität Weimar, der maßgeblich an der Software-Entwicklung beteiligt war. „Wir können die Gebäude in allen Details abbilden und durch die hochauflösende Echtzeitwiedergabe am Bildschirm oder in der virtuellen Realität sind sie sehr authentisch erlebbar.“

Virtuell gemeinsam vor Ort: Dank der Technologien des Projektteams „DenkmalDigital“ können Fachleute ein Kulturdenkmal auch vom Schreibtisch aus genau begutachten.
Virtuell gemeinsam vor Ort: Dank der Technologien des Projektteams „DenkmalDigital“ können Fachleute ein Kulturdenkmal auch vom Schreibtisch aus genau begutachten. © Bauhaus-Universität Weimar

Vernetzt und jederzeit abrufbar

Nun ist die digitale Erfassung und dreidimensionale Modellierung von Gebäuden nicht ganz neu. Doch die Genauigkeit der aufgenommenen Daten und die Dichte ihrer Verarbeitung, die das DenkmalDigital-Team erreicht hat, sind ein Novum. „Uns unterscheidet von anderen Anbietern, dass wir die erzeugten Daten vernetzen und auf verschiedensten Geräten abrufen können“, sagt Kulik. „Die Daten werden in einem Archiv im Internet gesichert und sind von dort mit einer Zugangsberechtigung abrufbar.“ Auf diese Weise sind gemeinsame, virtuelle Begutachtungen möglich, ohne dass alle Beteiligten vor Ort sein müssen. Jens Linke, der Restaurator in dem interdisziplinären Projektteam, ist von den Möglichkeiten sehr angetan. „50 Prozent unserer Arbeit ist Dokumentation“, sagt er. „Und 3D ist ein Quantensprung in der Bestandserfassung. Was wir früher mit Handskizzen und reiner Fotografie gemacht haben, ist heute im virtuellen dreidimensionalen Raum möglich.“ Der Bauingenieur Norman Hallermann sieht vor allem in der Arbeitserleichterung einen enormen Nutzen. „Zukünftig werden die digitalen Daten automatisiert ausgewertet und exakt am Bauwerk verortet – damit ist die Dokumentation erledigt“, sagt er. „Der Bauwerksprüfer oder Restaurator kann sich dann eher dem Objekt widmen. Das ist auch das Ziel, das wir mit unserem Projekt verfolgen.“

Ein Projekt – zwei Ausgründungen

Norman Hallermann hat sich an der Bauhaus-Universität in Weimar schon eine Weile mit der digitalen Bestandserfassung von Bauwerken beschäftigt, allerdings vor allem von Brückenbauten und Talsperren. Erst durch die Vogtlandpioniere und Alexander Kulik, der mit der Visualisierung historischer Objekte beschäftigt war, haben der Bauingenieur und seine Kollegen auch die Möglichkeiten für die Denkmalpflege erkannt. Aufgrund des großen Marktpotenzials gründeten zwei Professoren der Bauhaus-Universität in Weimar 2020 die Infralytica GmbH, die sich um die digitale Diagnostik von Infrastruktur und historischen Bauwerken kümmert. 2021 erhielt die Firma bereits den Deutschen Ingenieurspreis. Alexander Kulik und sein Team widmen sich eher den technischen Möglichkeiten zur Echtzeit-Visualisierung von großen Datensätzen, zum Beispiel zur Begutachtung von Bauwerken, und der gemeinsamen Arbeit damit. Dafür hat er zusammen mit vier Informatikern die Consensive GmbH gegründet. Derzeit sucht er nach weiteren Partnern mit kontinuierlichen Projekten in der Denkmalpflege und Wissensvermittlung. „Wir wollen nicht unendlich groß werden, sondern spezielle Bestandteile virtueller Systeme liefern. Wir sind fokussiert auf Datenstreaming und kollaborative Zusammenarbeit“, so Kulik.

Potenzial heben

DenkmalDigital hat beeindruckend gezeigt, was mit neuen digitalen Technologien in der Denkmalpflege möglich ist. Auch wenn das Projekt inzwischen abgeschlossen ist, gehen die Entwicklungen weiter. Die Software soll verbessert und bisher ungenutzte Daten nutzbar gemacht werden. Das gilt zum Beispiel für die Daten der 3D-Laserscans, die zur Bestandsaufnahme dienten und Informationen bieten, die weder auf Fotos noch mit dem Auge sichtbar sind. Wird das Laserlicht zum Beispiel an einer Wand weniger reflektiert, kann es darauf hindeuten, dass sie feucht ist. Wenn Fachleute auf diese Weise früher wissen, wann sie eingreifen müssen, um ein Bauwerk zu erhalten, vermeidet das Folgekosten.

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